In Anbindung an die Frage, in welchem Europa wir heute leben, gibt Katja Petrowskajas Roman »Vielleicht Esther« Auskunft darüber, wie eine jüdische familiäre Herkunft mit europäischer Geschichte verwoben ist. Petrowskajas Buch ist eine Reise durch europäische Landschaften und Städte, in denen sie versucht, die überlieferten Geschichten ihrer Familie zu vervollständigen. Ihre Suche startet in Berlin, während der Hauptbahnhof mit einer Bombadier-Werbung plakatiert ist und führt sie nach Warschau, Kalisz, Kiew, Mauthausen, Gunskirchen und Wien. Sie dokumentiert Ihre Gedanken, während sie die sowjetische Realität ihrer Kindheit in Kiew Revue passieren lässt, in der Kriegsheldenverehrung und die Verluste des Krieges einen unerschöpflichen Vorrat an Glück bilden sollten. Denn die friedliche Normalität konnte nur auf den Millionen von Kriegstoten aufgebaut werden, so die verinnerlichte Melodie. Die sowjetische Gesellschaft ist nach Kriegsende vollends der Technisierung zugewandt, jeder zweite Junge möchte Flugzeuge bauen und später schwebt über allen der heilige Großvater Lenin, der seine Enkel in die Zukunft führt.
Die Familien schweigen über den Krieg und leben in den Schlafstädten vor sich hin. Katja Petrowskajas Vorfahren brachten unzähligen taubstummen Kindern das Sprechen und Schreiben bei. Diese Besonderheit nimmt Petrowskaja zum Anlass, um die jüdischen Stimmen ihrer Vorfahren zum Leben zu erwecken, sei es durch erinnerte Beobachtungen, gefundene Kochrezepte oder überlieferte Geschichten. Naturgemäß sind diese Geschichten unvollständig, möglicherweise sogar zum Teil erdacht, also aus »kranker Einbildungskraft« und »schwachem Gedächtnis« entstanden. Aber – so fragt sie: »Und womit, wenn nicht damit, lässt sich die historische Wahrhaftigkeit dieses Geschehens beweisen?« Gab es den Fikus wirklich, welcher dem Vater Platz machen musste auf dem Wagen während der Evakuierungswelle, die anfänglich etwas von einem Sommerausflug auf die Datscha hatte? In den historischen Archiven der jeweiligen Städte findet sie Fotos und Zeitungsausschnitte, die die Geschichten belegen, widerlegen oder erweitern.
Das jüdische Leben ist nach dem Krieg in Kiew verschwunden und mit ihm die Sprache: das Jiddische. Die sowjetische Staatsmacht, in deren Weltbild keine Vielfalt vorkommt, lässt den weiterhin grassierenden Antisemitismus gewähren, befördert ihn anfänglich sogar. Im Buch heißt es dazu: »Hitler hat die Leser getötet und Stalin die Schriftsteller, so fasste mein Vater das Verschwinden der Sprache zusammen. Diejenigen, die den Krieg überlebt hatten, waren wieder in Gefahr. Juden, Halbjuden, Vierteljuden – man lernte wieder, die Prozente zu schmecken, so dass die Zunge am kalten Eisen anfror.« Die Verwandtschaft passte sich den unterschiedlichen Zeiten an, änderte ihre Namen und zerstreute sich in alle Windrichtungen. Petrowskaja baut ein Panorama ihrer Verwandtschaft auf, in dessen Mittelpunkt ihr Großonkel Judas Stern steht, dessen gut dokumentierter Fall davon handelt, wie er im März 1932 auf den deutschen Botschaftsrat Fritz von Twardowski schoss. Die Beweggründe sind unklar und Petrowskajas Vermutungen endlos.
Zuweilen ermüdet das assoziative Voranschreiten der Gedankengänge in »Vielleicht Esther«, da die Antworten häufig rar sind und die Vorstellungen, wie es gewesen sein könnte, in jede Richtung abgeklopft werden. Wobei darin auch genau die Stärke des Buches liegt, wenn die Herkunft vormals zum Detail geronnen ist und nun wieder mit hoher assoziativer Dichte zum Leben erweckt wird. In Mauthausen überkommt die Autorin Erschöpfung angesichts der Zahlen der Ermordeten. Da sind für die Leserin, für den Leser, die Anderen bereits zu dem Nachbar von nebenan, zu den Kindern auf dem Spielplatz und zu der Puppenspielerin auf der Bühne geworden.
Katja Petrowskaja: „Vielleicht Esther“, Suhrkamp / Insel, 285 Seiten, 19,95 Euro
Dieser Text ist von 2015 und wurde ursprünglich auf dem nicht mehr zugänglichen Blog Bibliotheque gepostet.