Ist die Realität ein Film, musst du wissen, welches Genre er ist.
Was passiert, wenn du in ein fremdes Land kommst? Auf wen wirst du treffen? Wie wirst du leben können? All die W-Fragen, die einem Flüchtling ununterbrochen im Kopf herumspuken, werden in einer Neuköllner Sprachschule in ihrer Komplexität durch weitere W-Fragen potenziert.
Wer bist du?
Woher kommst du?
Darauf gibt es keine einfachen Antworten, wenn man palästinensischer Israeli ist oder eine Israeli, die mit einem palästinensischen Israeli verheiratet ist. Stefan, oder wie sich später herausstellt, Sergej, unterrichtet seine Schüler in Deutsch und er kümmert sich auch außerhalb des Unterrichts um seine Schützlinge. Er ist engagiert, sexuell interessiert und bemüht um eine gelungene Integration. Er möchte helfen, wo er kann und bleibt doch permanent überfordert. Neukölln sei ein palästinensisches Dorf, sagt der palästinensische Israeli, dessen Sohn bei einem palästinensischen Imbiss auf Hebräisch einen Orangensaft bestellt und dafür angegriffen wird. Der Syrer in der Sprachklasse unterläuft die Komplexität für einen Moment komplett, indem er den palästinensischen Israeli als Spion bezeichnet. Überhaupt – der Angriff. Gespräche sind entweder Streitgespräche oder Monologe, die darauf abzielen das Gegenüber anzugreifen.
Ein Parkour turnender Palästinenser, der die Mauer zwischen dem Westjordanland und Israel überwunden hat, um das Meer sehen zu wollen, rappt gegen Zionisten an und wird dafür von Stefan-Sergej vorsichtig ermahnt. Stefan-Sergej, der gut integrierte Kasache, weiß um die deutsch-israelische Situation und versucht immer wieder zu schlichten, zu erklären und zu versöhnen. Dass er dabei leider oft lächerlich wirkt, ist nicht ihm anzulasten, sondern The Situation.
The Situation findet in einer unspektakulären Kulisse statt, die an Kinderfernsehen erinnert, aber eigentlich den Klassenraum einer Sprachschule in Neukölln darstellt. Zwei knallgelbe Treppen und deren graue Rückansicht, eine Simulation der Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland, die der Zuschauer anfangs kurz zu sehen bekommt, sind die Spielwiese der verfeindeten Gruppierungen. Daneben steht ein überdimensionaler grüner Plastikkaktus, welcher neben dem Handzettel kurz die Lage skizziert. Wir befinden uns zwar in Berlin-Neukölln, aber auch in Damaskus, Haifa oder Jenin.
Der Syrer, an dem Stefan-Sergej sexuell interessiert ist, kann am wenigsten die Frage beantworten, woher er kommt. Im Grunde genommen ist er Filmemacher, der auf der Durchreise in Deutschland hängengeblieben ist und eigentlich wieder zurück in sein Land will. Er hat sich der Kriegssituation schon längst angepasst, weiß sich durchzuschlagen und mit dem IS zurechtzukommen. Stefan-Sergej ist entsetzt, erschüttert und vermutlich auch enttäuscht.
Das Stück funktioniert vor allem über die verschiedenen Sprachen (Deutsch, Englisch, Hebräisch, Arabisch), Sprachmissverständnissen, Wortspielen und sexuellen Anspielungen. Gäbe es die sexuellen Anspielungen nicht, wäre man einem andauerndem Shitstorm von unerträglichen Anschuldigungen ausgesetzt und glaubte sich im Internet und all seinen sozialen Medien. Im Theater sitzend, etwas Ruhe suchend, möchte man das natürlich nicht. Übertitel in Deutsch und Englisch übersetzen das Gesprochene und Erlebte.
Die Nachrichten sind derzeit geprägt von Flüchtlingen, welche sich auf dem March of Hope oder den Trains of Hope befinden. Sie verlassen fluchtartig Ungarn mit dem festen Vorsatz, in ein Land zu gelangen, wo sie erwünscht sind und gut behandelt werden. Die EU ist sich uneins und überfordert. Hat man doch vor nicht allzu langer Zeit erst Griechenland überwunden. Aber wir leben in einer Zeit von großen Migrationsbewegungen, welche morgen oder übermorgen nicht vorbei sein werden. Und vermutlich war es schon immer so. Berlin hat sich schon immer verändert und die Stadt wird lächeln, wenn sie wieder eine neue Veränderung geschafft hat.
Noa und Amir, das ungleiche palästinensische israelische Paar, welches dem Zuschauer beinahe Halt gibt, erzählt von dem Jerusalem Syndrome. Wenn Menschen Jerusalem besucht haben, werden sie verrückt. That’s when people become crazy. Darüber erzählt The Situation – that’s when people become cracy.
Ich will dich integrieren – I want to integrate you!
Maxim Gorki
PS: Ich gehe aus dem Theater und laufe zum Bahnhof Friedrichstraße, an dem Hinterausgang der Humboldt-Universität zu Berlin vorbei. In einem Wartehäuschen einer Straßenbahnhaltestelle liegt ein Flüchtling in einen Schlafsack eingewickelt. Es ist 21 Uhr und die Straßen sind belebt. Niemand schläft um diese Zeit. Ich weiß, dass mein Wecker morgen um sechs Uhr klingeln wird.