Europa wird in den letzten Jahren mit drei großen Themen in Verbindung gebracht – den wirtschaftlichen Problemen in Griechenland, der politischen Situation in der Ukraine und seit diesem Jahr mit syrischen und eritreischen Flüchtlingen. Nun können Sie, werte Leserin, werter Leser, an jedes der genannten Themen eine „Krise“ heften und sich dann wieder Ihren alltäglichen Problemen zuwenden. Allerdings werden Sie früher oder später bemerken, dass die etwas anderen Probleme sich bereits in Ihrem Alltag bemerkbar machen. Der Arbeitskollege, der neuerdings unterschwellige rassistische Äußerungen für legitim hält, die neuen Mitschüler*innen in der Schule ihrer Kinder, die kein Deutsch können und die Überlegung, ob Sie dieses Jahr ihren Urlaub woanders als in Griechenland verbringen werden, sind da nur einige Beispiele. Veränderungen befremden und verunsichern, weil sie das gewohnte Leben durcheinander bringen. Sich abzuschotten kann keine Lösung sein. Die Fertighecken in den Köpfen gelangen aber inzwischen nach außen. Es wird eine Mauer gebaut, Zäune werden hochgezogen und alles Fremde außerhalb der Komfortzone verbannt. Nicht nur in Ungarn.
„Da jeder Mensch einzigartig und einmalig ist, …, ist jeder Wettbewerb ist sinnlos.“
Wenn man wissen möchte, wie es heutzutage um Europa bestellt ist, sollte man den Blick auf seine Schwachstellen und Ränder werfen. Der kroatische Schriftsteller Edo Popović entwirft in „Der Aufstand der Ungeniessbaren“ eine gespaltene Gesellschaft, die sich aus den Erfahrungen der kriegerischen Konflikte auf dem Balkan entwickelt hat. Alle attraktiven Orte in Kroatien, wie die adriatische Küste, sämtliche Inseln, Istrien und sieben große Städte, wie Zagreb und Dubrovnik, sind zu einer Holding vereinigt, die von Steuern, Handel und Maklergeschäften lebt. Die Städte sind von Mauern umgeben und werden streng bewacht. Die Holding wird von einer Organisation namens HUKEIVERBRE kontrolliert, was ein Akronym für „Helden und keine Verbrecher“ ist. Popović stellt sie in eine Reihe mit IBM, der Weltbank, Halliburton und dem kolumbianischen Drogenkartell. Auf der anderen Seite der Mauer leben die „Ungeniessbaren“, eine Bewegung von Menschen, für die anfänglich kein Platz mehr in der Gesellschaft war. Sie erteilen der Konsumgesellschaft eine Absage und gehen gemeinsam Containern, ihre Spiele sind frei von Wettbewerb und sie besitzen keine Pässe. Die Holding hält ihre Städte frei von allem Frivolen und Frevelhaften. Die Zone wird zum Ausflugsgebiet für Banker und Immobilienmakler, bis einige von ihnen entführt werden. Der fröhlich Aufstand gerät zu einem terroristischem Kampf. Das 2011 erschienene Buch greift viele Entwicklungen der kommenden Jahre voraus. Die Ungeniessbaren werden überwacht und es herrscht eine regelrechte Datensammelwut. Geheimcodes werden entwickelt und poetische Zeilen übermitteln den Treffpunkt in einem Museum in Madrid oder einem Wiener Kaffeehaus. Die Menschen außerhalb der Holding hoffen nicht mehr. Sie wissen, dass die Wahrheit die Lüge nicht besiegen wird. Der entführte Makler befindet sich in einer Welt, jenseits der Mauer, in der sein Geld und sein Einfluss nichts zählt. Die Verhältnisse werden für einen Moment umgekehrt. Er hat weniger Bedeutung als ein streunender Hund.
Edo Popović: „Der Aufstand der Ungeniessbaren“ Luchterhand Literaturverlag, 192 Seiten, 17,99 Euro
„Es werden die Büsten von Mirabeau und Helvetius, denen Forderungen nach einer Bildungsreform unterstellt wurden, aus dem Pantheon herübergeholt, der Versammlung vorgezeigt und vor den Augen der Abgeordneten zertrümmert. »Politik der Tat.«“
Eine andere Herangehensweise, um sich dem europäischen Geist zu nähern, besteht darin, in das Innenleben von europäischer Politik zu schauen.
Alexander Kluges „Das Bohren harte Bretter – 133 politische Geschichten“ bietet dazu die Möglichkeit. In 133 wahren und halb erfundenen Episoden kämpfen Politiker und Philosophen zwischen Alltäglichem und großer Weltgeschichte um das Gelingen von Politik. Sie scheitern, straucheln und entgehen zu vielen Handlungsmöglichkeiten durch widrige Umstände. Kluge rechnet aus, dass die Kanzlerin, gehindert an einem Weiterflug durch die Aschewolke des Eyjafjallajökull, einem Potential an zwei Milliarden falschen Entscheidungen entging, da 60 000 an einem Tag unterbunden worden waren. Der Apparat hinter dem Kanzleramt ist ein Bremsorgan, welches einen Überschuss an impulsiven oder sogar falschen Entscheidungen zu verhindern versucht. Reist die Kanzlerin, gewinnt sie glaubhaft Zeit, um keine Entscheidungen treffen zu müssen. Wer erfahren will, wie unsere politischen Geschicke geleitet werden und wurden, folgt hier also den unergründlichen Pfaden europäischer Politik und ihren Ursprüngen. Dazu gehören auch Glasnost, Perestroika und die französische Revolution. Nach dem Tod von Ludwig XVI. debattierte man in der Nationalversammlung eine geschlagene Woche über die Zukunft des Unterrichts und seiner Ausgestaltung. Die Debatte zerfiel und bis zum Ende der Großen Revolution wurde der Unterricht nie wieder ein Hauptgegenstand politischer Auseinandersetzung. Die französische Revolution ist ein politischer Umsturz, in dem nur radikale Taten zählen und Köpfe rollen.
Alexander Kluge: „Das Bohren harter Bretter – 133 politische Geschichten“ Suhrkamp Verlag, 336 Seiten, 24,90 Euro
„Und ist Ihnen aufgefallen, dass fast alle Spiele kommunistisch beginnen und kapitalistisch enden? Alle fangen mit dem gleichen Geld an, alles ist fair.“
Kapitalismuskritische Bücher sind seit Jahren auf sämtlichen Bestsellerlisten. Da mag mancher inzwischen müde abwinken. Um genau dieser Müdigkeit entgegenzuwirken und sich den Herausforderungen der Gegenwart, sei es den Migrationsbewegungen, den Bürgerkriegen oder TTIP zu stellen, tut es gut, das Streitgespräch zwischen den Stars der Kapitalismuskritik Tomáš Sedláček und David Graeber zu lesen. „Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus?“ erinnert im Titel an eine andere Streitschrift, welche bereits über 100 Jahre alt ist. „Sozialreform oder Revolution“ von Rosa Luxemburg, erschienen 1899, setzte sich mit dem für und wider eines sozialreformistischen Ansatzes in der Politik auseinander. Die Ungleichheit der Wohlstandsverteilung wird die kommenden Jahre eher zu als abnehmen. Sedláček möchte dem eine reformkapitalistische Perspektive entgegensetzen, wohingegen Graeber glaubt, das System des Kapitalismus müsse erst untergehen, bevor wir neue Ansätze des wirtschaftlichen Zusammenlebens finden können. Graeber sucht, aufgrund seiner Erfahrung mit der Occupy-Bewegung, einen Weg zurück zur direkten Demokratie, um dem Homo Oeconomicus als zentraler Leitfigur Einhalt zu gebieten. Sedláček möchte den menschlichen Aspekt in unsrem Wirtschaftsleben wieder stärker hervorheben, denn da sind sich beide einig, ein rein rationales ökonomisches Modell an sich existiert so nicht. Es ist so, als würden Physiker aus einem Experiment, welches ohne Reibung und Luftwiderstand stattfindet, unumstößliche Gesetze herleiten, welche allgemeingültig wären.
Graeber spricht davon, dass der Machtgrundsatz darauf beruht, die Regeln und ihre Auslegung zu bestimmen. Jemanden, der gegen die Regeln verstößt, schließen wir aus unserer Gemeinschaft aus. Weil wir die Regeln akzeptieren und sie uns Sicherheit verschaffen, verkraften wir es auch leichter kontrolliert zu werden. Unsere Regeln schaffen einen Ressourcenmangel in vielen Gebieten der Erde und die Leidtragenden von Umweltverschmutzung und niedrigen sozialen Standards bewegen sich allmählich Richtung Europa, in Richtung Kapital. Es ist ein wirkungsvolles Mittel des Kapitalismus, den Schulden eines Landes eine moralische Essenz zuzuschreiben. Man spricht dann davon, dass ein Land zu sehr gefeiert und sich ausgeruht habe. Dabei zeigt die Geschichte der Schulden, dass die Mehrzahl der Leute, die Schulden hatten, Landwirte waren, die eine schlechte Ernte zu verkraften hatten.
Tomáš Sedlácek und David Graeber: „Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus?“ Hanser Verlag, 144 Seiten, 15,90 Euro.
Dieser Text ist von 2015 und wurde ursprünglich auf dem nicht mehr zugänglichen Blog Bibliotheque gepostet.