The Lonely City – Olivia Laing

»When I came to New York I was in pieces, and though it sounds perverse, the way I recovered a sense of wholeness was not by meeting someone or by falling in love, but rather by handling the things that other people had made, slowly absorbing by way of this contact the fact that loneliness, longing, does not mean one has failed, but simply that one is alive.«

Die Wahrnehmung eines fundamentalen Gefühls von Einsamkeit, wenn es sich nicht schon in der Kindheit manifestiert hat, beginnt mit größter Wahrscheinlichkeit mit der ersten eigenen Wohnung, der Fremdheit der neuen Räume, der fremden Einbauküche und dem Gefühl, von der Vergangenheit abgeschnitten worden zu sein. Mit den ersten Erkundungen der neuen Umgebung versucht sich die Psyche über Objekte zu stabilisieren, denen sie liebevolle Aufmerksamkeit zu schenken vermag. Der Bäcker neben meiner ersten eigenen Wohnung hatte fantastische Schokoladencroissants und das erste Ritual, welches ich etablierte, war, mir jeden morgen ein Schokoladencroissant zu kaufen. Später beobachtete ich wachsamen Auges die Schaufensterauslagen eines ausgewiesenen Dekorationsgeschäftes in Schöneberg und wie sich die Auslagen während der Jahreszeiten wandelten. Als das Geschäft schlussendlich auszog, war ich in Schöneberg längst angekommen und wieder dabei, umzuziehen. Dieses Mal mit mehr Gelassenheit, denn ich kannte inzwischen die kleinen Tricks, die es braucht, um mit Veränderungen umzugehen. Auch mit den schmerzhaften.

Olivia Laing, die der Liebe wegen nach New York zog, musste bei ihrer Ankunft erfahren, dass die Liebe sich von ihr zurückgezogen hatte. Allein in einer fremden Stadt, in einer fremden Wohnung, getrennt von der Außenwelt, begann sie in der Stadt der hell ausgeleuchteten Glasfassaden sich über New Yorks Künstler ihrer eigenen Einsamkeit, der Einsamkeit und dem Alleinsein an sich anzunähern. Dabei galt ihr Augenmerk besonders Andy Warhol, Edward Hopper, Henry Darger und David Wojnarowicz. Ihre Überlegungen beginnen mit den sorgsam aufgeführten Funden der Vergangenheit und verknüpfen das Gedankengut der Avantgarde mit den uns heute umgebenden technischen Errungenschaften. Die englischsprachige Presse schreibt über die Autorin von »The Lonely City« zu großen Teilen begeistert, wie hier zum Beispiel die New York Times:

»The Book of Common Prayer offers an intercession for “our families, friends and neighbors, and for those who are alone.” We tend to put the alone in this separate category, but for Olivia Laing, “the essential unknowability of others” means that to be human is to be lonesome, at least sometimes. So why don’t we talk about it more openly? “What’s so shameful,” she asks, about “having failed to achieve satisfaction, about experiencing unhappiness?” This daring and seductive book — ostensibly about four artists, but actually about the universal struggle to be known — raises sophisticated questions about the experience of loneliness, a state that in a crowded city provides an “uneasy combination of separation and exposure.”«

Bemerkenswert ist zudem, dass sämtliche englischsprachige Kritiken sich kaum ähneln. Ich bin mir nicht sicher, ob das vor allem ein Verdienst der grandiosen und eloquenten Non-fiction von Olivia Laing ist oder ob englischsprachige Literaturkritiker*innen generell einen großen Wert auf Eigenständigkeit und Originalität legen.

Mit ihrer Widmung »If you’re lonely, this one’s for you« adressiert die Autorin von »To the River« und »The Trip to Echo Spring« eine Leserschaft, die sich vielleicht bisher nur oberflächlich mit Andy Warhol oder auch Edward Hopper beschäftigt hat, wobei das Buch durchaus neue Perspektiven und Verbindungen in der Betrachtung der Kunst des 20. Jahrhunderts ergründet. Die akademische, hybride Form von Memoir, Kunstkritik und Reisebericht nimmt Warhols tape recorder, »his wife«, zum Anlass, unsere körperliche Abwesenheit in unserer täglichen Kommunikation zu hinterfragen. Ausgehend von ihrer persönlichen Situation, in der Olivia Laing sich selbst als allein und einsam wahrnimmt, sich hinter ihrem Laptop versteckt, Anzeigen in Craigslist liest und hypersensitive in einem New Yorker Coffee Shop den Verkäufer beobachtet, ob er ihr ablehnend gegenüber sein könnte, geht sie in Archive und schaut sich die Fotografien und Filme von David Wojnarowicz an, um die Prozesse von Einsamkeit besser zu verstehen. Wojnarowicz‘ berühmte Fotografieserie, in der Arthur Rimbauds Gesicht als Fotokopie durch die Straßen von New York wandert und einen geborgten Körper besitzt, ist da nur eine Variante. Andy Warhol umgab sich gern mit Menschen, auch während seiner Arbeit. Kommuniziert hat er aber zumeist über seine technischen Devotionalien, seinen tape recorder, seine Kameras, seine Leinwände und sein Telefon. Wem fiele da nicht Siri ein? Laing widmet im Anschluss an Andy Warhol auch Valerie Solanas einige Seiten, wo sie ihre außergewöhnliche Stärke und ihr Außenseitertum beleuchtet. Versteckt und doch zugleich gesehen werden, das waren die grobkörnigen Aussagen von Hoppers Gemälden, Warhols reproduzierten Marylins und Wojnarowicz‘ Maskenspiel.

Alle von Olivia Laing ausführlich besprochenen Künstler hatten eine Bürde zu tragen, zumeist die eines Außenseiters, zuweilen gaben verstörende und bestürzende biografische Momente ihrem Außenseitertum Nahrung. Laing findet dafür später die schöne Metapher als auch das stoffliche Vorhandensein des Klebers in den Werken der Künstler, der die eventuell nie erlebte Erfahrung einer Gesamtheit Ausdruck verleihen soll. Ein nicht unwesentlicher Teil des Buches beschäftigt sich mit den HIV-Erkrankungen einiger der genannten Künstler. Sie widmet Klaus Nomi einige Seiten und wieder trifft es David Wojnarowicz. Die Szene erlebt eine innere und äußere Erschütterung. Von außen werden sie gemieden und im Inneren stirbt einer nach dem anderen weg. Doch fern ab von Agonie und Frustration wird auf der Straße und vor dem Weißen Haus für eine Verbesserung der medizinischen Versorgung der Erkrankten gekämpft.

Der Grundaussage des Buches, dass die von ihr besonders herausgestellten Künstler prototypisch für grundlegende Erfahrungen unserer heutigen Zeit stehen, stimme ich zu großen Teilen zu.

»At the screen, you have a chance to write yourself into the person you want to be and to imagine others as you wish them to be, constructing them for your purposees. It’s a seductive but dangerous habit of mind.«

Meine Kritik fischt eher im Kleinteiligen. Die anfänglich aufgestellte Gleichsetzung von Einsamkeit und die Wahrnehmung derselben als Isolationshaft in einem Eisblock ist nicht stimmig mit den Arbeiten der von ihr hervorgehobenen Künstlern. Deren Arbeiten sind weder hermetisch, selbst nicht die von Henry Darger, noch isoliert und verschlossen. Jede einzelne dieser Arbeiten beginnt mit einem kommunikativen Moment vor der eigentlichen Kommunikation. Hunger als Antriebsmoment finde ich hier stimmiger.

»What does it feel like to be lonely? It feels like being hungry: like being hungry when everyone around you is readying for a feast. It feels shameful and alarming, and over time these feelings radiate outwards, making the lonely person increasingly isolated, increasingly estranged.«

Was hingegen gut funktioniert, ist das Zitat von Epiktet. Damit lässt sich jede Form von Einsamkeit und der damit einhergehenden Durchlässigkeit erklären, egal in welcher Phase des Lebens man sich befindet .

»For because a man is alone, he is not for that reason also solitary; just as though a man is among numbers, he is not therefore not solitary.«

Mit der Gentrifizierung der Städte hat auch eine Gentrifizierung der Gefühle Einzug gehalten, mit einem gleichmachenden, ausradierendem und tödlichen Effekt.

»that not all wounds need healing and not all scars are ugly.«

Was nicht sein darf, was zu kompliziert ist, wie Depressionen, Angst oder Einsamkeit und als ungelöste medikamentöse Probleme gesehen wird, anstatt auch strukturelle Ungerechtigkeiten im Blick zu haben. Dabei sind wir einander verpflichtet innerhalb dieser Ansammlung von Wunden und um sie kreisenden Objekten zu einander freundlich, offen und solidarisch zu sein.

»Loneliness is personal, and it is also political. Loneliness is collective; it is a city.«

Dem Buch ist eine gelungene Übersetzung ins Deutsche zu wünschen, wobei das Original natürlich zu bevorzugen ist.

Dieser Text ist von 2016 und wurde ursprünglich auf dem nicht mehr zugänglichen Blog Bibliotheque gepostet.

Berlin – Potsdam

Wer von Berlin nach Potsdam fahren möchte, denkt vermutlich zunächst daran, am Alexanderplatz oder am Hauptbahnhof in den Regionalzug zu steigen. Die Kunst ist es aber, die gesamte Strecke mit der S-Bahn zu fahren und dafür sollte man sich auch einen etwas abgelegenen Bahnhof als Ausgangspunkt nehmen.

Lichtenberg oder Springpfuhl wären dafür geeignete Bahnhöfe. Auf dem fremden zugigen Bahnhof gilt es zunächst einmal, Haltung zu bewahren. Als Hilfsmittel könnten natürlich Kopfhörer dienlich sein, aber wir wollen ja das Gesamterlebnis. Also warten wir, bis die S-Bahn nach Potsdam eintrifft. Unterdessen kann man die anderen Wartenden beobachten, die Plakatwerbung oder die eigenen Füße studieren. Nachdem man einige Gespräche oder Telefonate mitangehört hat, fährt endlich die lang ersehnte S-Bahn nach Potsdam ein.

Tagsüber in der Woche finden wir problemlos ein leeres Abteil für uns alleine und können nun die fließenden Übergänge der Stadtbezirke bestaunen. Das Gewebe, bestehend aus hellen, teilweise farbigen Plattenbauten und Unmengen an Bäumen und Wiesen, geht zwischen Lichtenberg und Nöldnerplatz allmählich über in sandfarbene und dunkelgraue Mietskasernen mit begrünten Balkonen. Wir seufzen ein wenig und überlegen uns Hintergrundgeschichten zu den ein- und aussteigenden Menschen. Die alleinerziehende Mutter, die sich am Telefon mit dem Kindsvater streitet, die Gruppe junger Mädchen, die sich über die Antworten des jeweiligen Crushs lautstark amüsiert. Die Mädchen steigen aus, aber wir müssen weiter.

Zwischen Ostbahnhof und Jannowitzbrücke bekommen wir erneut die Platte zu Gesicht, aber auch zahlreiche Neubauten und architektonische Irrtümer der letzten Jahrzehnte gleiten sanft an uns vorüber. Das Spreeufer streift unseren Blick und wir dringen allmählich in das Herz der Stadt vor. Als Berlin-Neuling sind da natürlich kaum Assoziationen möglich, aber wer schon ein paar Jahre länger hier wohnt, verbindet mit dem ein oder anderen Ort auch eine Erinnerung, eine gute oder schlechte. Erinnerst du dich noch an den Abend auf diesem freien Gelände (welches jetzt bebaut ist) unten an der Spree zwischen Jannowitzbrücke und Alex? Die Erinnerung ist schwach, aber es war ein guter Abend. Natürlich haben wir getrunken und das Leben gefeiert.

Am Alexanderplatz steigen einige Menschen aus und du schaust auf den Fernsehturm, weil du das immer so machst. Auf den kommenden Stationen weicht die Architektur des 20. Jahrhunderts der wilhelminischen Kaiserzeit und das Wilhem-Grimm-Zentrum, dieser neue großartige Klotz, steht dazwischen wie ein angehäufter quadratischer Sandberg, in dem Ameisen oder eben Studierende leben. Die Fenster der nachfolgenden Mietskasernen liegen so nah, dass du hoffst, ein Gesicht am Fenster zu erhaschen, aber keine Chance.

Den Ostsektor zu verlassen ist keine Hürde mehr, man landet einfach mit einem Wimpernschlag in West-Berlin. Am Hauptbahnhof steigen wieder viele Fahrgäste aus und wir rütteln uns kurz zurecht, da wir noch eine halbe Stunde Fahrzeit vor uns haben. Die Aufregung steigt, wir fahren am Hansaviertel vorbei, erhaschen einen Blick auf die Siegessäule und schon sind wird da. Allerdings gestaltet sich der Bahnhof Zoo als vollkommen unspektakulär. Normale Menschen steigen aus und normale Menschen steigen wieder ein. Immerhin, wir haben die Gedächtniskirche aus einer Perspektive gesehen, die sonst zu erreichen schwierig wäre. Aufmerksame S-Bahn-Fahrer:innen sehen den Schriftzug des Tattersalls des Westens auf der weiteren Reise an einer Hausinnenhofwand, die anderen sehen vermutlich nichts weiter oder sind abgelenkt durch Gespräche, Hunde oder obdachlose Zeitungsverkäufer:innen.

An Charlottenburg und Westkreuz können sich die meisten Reisenden nicht mehr erinnern, weil hier das Gehirn kurz blockiert wurde. Danach befindet man sich wieder in Wäldern und Gartenlauben, die am Rand der S-Bahn gelegen sind. Gelegentlich bekommt man einen Tennisplatz zu Gesicht, was bedeutet, man erreicht nun die gediegene Villenwelt von West-Berlin. Der S-Bahnhof Nikolassee wirkt oberflächlich gesehen mediterran, aufgrund seiner Bepflanzung und ab Wannsee ruht sich das Auge auf einigen Gewässern aus. Wir sind nun schläfrig geworden, aber Babelsberg braucht noch einmal unsere Aufmerksamkeit. Die Häuser haben Kleinstadtcharakter und das Thalia, das wir von unserem Standpunkt aus sehen, wirkt unspektakulär. Aber ich verspreche ihnen, besuchen sie doch mal das Thalia in Babelsberg. Eine Minute noch und dann sind wir da, im herrlichen Potsdam. Die Baustellen vor dem Bahnhof sind nur eine Halluzination und nächsten Sommer wieder verschwunden. Versprochen.

Das Unglück der Anderen

In Anbindung an die Frage, in welchem Europa wir heute leben, gibt Katja Petrowskajas Roman »Vielleicht Esther« Auskunft darüber, wie eine jüdische familiäre Herkunft mit europäischer Geschichte verwoben ist. Petrowskajas Buch ist eine Reise durch europäische Landschaften und Städte, in denen sie versucht, die überlieferten Geschichten ihrer Familie zu vervollständigen. Ihre Suche startet in Berlin, während der Hauptbahnhof mit einer Bombadier-Werbung plakatiert ist und führt sie nach Warschau, Kalisz, Kiew, Mauthausen, Gunskirchen und Wien. Sie dokumentiert Ihre Gedanken, während sie die sowjetische Realität ihrer Kindheit in Kiew Revue passieren lässt, in der Kriegsheldenverehrung und die Verluste des Krieges einen unerschöpflichen Vorrat an Glück bilden sollten. Denn die friedliche Normalität konnte nur auf den Millionen von Kriegstoten aufgebaut werden, so die verinnerlichte Melodie. Die sowjetische Gesellschaft ist nach Kriegsende vollends der Technisierung zugewandt, jeder zweite Junge möchte Flugzeuge bauen und später schwebt über allen der heilige Großvater Lenin, der seine Enkel in die Zukunft führt.

Die Familien schweigen über den Krieg und leben in den Schlafstädten vor sich hin. Katja Petrowskajas Vorfahren brachten unzähligen taubstummen Kindern das Sprechen und Schreiben bei. Diese Besonderheit nimmt Petrowskaja zum Anlass, um die jüdischen Stimmen ihrer Vorfahren zum Leben zu erwecken, sei es durch erinnerte Beobachtungen, gefundene Kochrezepte oder überlieferte Geschichten. Naturgemäß sind diese Geschichten unvollständig, möglicherweise sogar zum Teil erdacht, also aus »kranker Einbildungskraft« und »schwachem Gedächtnis« entstanden. Aber – so fragt sie: »Und womit, wenn nicht damit, lässt sich die historische Wahrhaftigkeit dieses Geschehens beweisen?« Gab es den Fikus wirklich, welcher dem Vater Platz machen musste auf dem Wagen während der Evakuierungswelle, die anfänglich etwas von einem Sommerausflug auf die Datscha hatte? In den historischen Archiven der jeweiligen Städte findet sie Fotos und Zeitungsausschnitte, die die Geschichten belegen, widerlegen oder erweitern.

Das jüdische Leben ist nach dem Krieg in Kiew verschwunden und mit ihm die Sprache: das Jiddische. Die sowjetische Staatsmacht, in deren Weltbild keine Vielfalt vorkommt, lässt den weiterhin grassierenden Antisemitismus gewähren, befördert ihn anfänglich sogar. Im Buch heißt es dazu: »Hitler hat die Leser getötet und Stalin die Schriftsteller, so fasste mein Vater das Verschwinden der Sprache zusammen. Diejenigen, die den Krieg überlebt hatten, waren wieder in Gefahr. Juden, Halbjuden, Vierteljuden – man lernte wieder, die Prozente zu schmecken, so dass die Zunge am kalten Eisen anfror.« Die Verwandtschaft passte sich den unterschiedlichen Zeiten an, änderte ihre Namen und zerstreute sich in alle Windrichtungen. Petrowskaja baut ein Panorama ihrer Verwandtschaft auf, in dessen Mittelpunkt ihr Großonkel Judas Stern steht, dessen gut dokumentierter Fall davon handelt, wie er im März 1932 auf den deutschen Botschaftsrat Fritz von Twardowski schoss. Die Beweggründe sind unklar und Petrowskajas Vermutungen endlos.

Zuweilen ermüdet das assoziative Voranschreiten der Gedankengänge in »Vielleicht Esther«, da die Antworten häufig rar sind und die Vorstellungen, wie es gewesen sein könnte, in jede Richtung abgeklopft werden. Wobei darin auch genau die Stärke des Buches liegt, wenn die Herkunft vormals zum Detail geronnen ist und nun wieder mit hoher assoziativer Dichte zum Leben erweckt wird. In Mauthausen überkommt die Autorin Erschöpfung angesichts der Zahlen der Ermordeten. Da sind für die Leserin, für den Leser, die Anderen bereits zu dem Nachbar von nebenan, zu den Kindern auf dem Spielplatz und zu der Puppenspielerin auf der Bühne geworden.

Katja Petrowskaja: „Vielleicht Esther“, Suhrkamp / Insel, 285 Seiten, 19,95 Euro

Dieser Text ist von 2015 und wurde ursprünglich auf dem nicht mehr zugänglichen Blog Bibliotheque gepostet.

Hello Europe, how are you doing today?

Europa wird in den letzten Jahren mit drei großen Themen in Verbindung gebracht – den wirtschaftlichen Problemen in Griechenland, der politischen Situation in der Ukraine und seit diesem Jahr mit syrischen und eritreischen Flüchtlingen. Nun können Sie, werte Leserin, werter Leser, an jedes der genannten Themen eine „Krise“ heften und sich dann wieder Ihren alltäglichen Problemen zuwenden. Allerdings werden Sie früher oder später bemerken, dass die etwas anderen Probleme sich bereits in Ihrem Alltag bemerkbar machen. Der Arbeitskollege, der neuerdings unterschwellige rassistische Äußerungen für legitim hält, die neuen Mitschüler*innen in der Schule ihrer Kinder, die kein Deutsch können und die Überlegung, ob Sie dieses Jahr ihren Urlaub woanders als in Griechenland verbringen werden, sind da nur einige Beispiele. Veränderungen befremden und verunsichern, weil sie das gewohnte Leben durcheinander bringen. Sich abzuschotten kann keine Lösung sein. Die Fertighecken in den Köpfen gelangen aber inzwischen nach außen. Es wird eine Mauer gebaut, Zäune werden hochgezogen und alles Fremde außerhalb der Komfortzone verbannt. Nicht nur in Ungarn.

„Da jeder Mensch einzigartig und einmalig ist, …, ist jeder Wettbewerb ist sinnlos.“

Wenn man wissen möchte, wie es heutzutage um Europa bestellt ist, sollte man den Blick auf seine Schwachstellen und Ränder werfen. Der kroatische Schriftsteller Edo Popović entwirft in „Der Aufstand der Ungeniessbaren“ eine gespaltene Gesellschaft, die sich aus den Erfahrungen der kriegerischen Konflikte auf dem Balkan entwickelt hat. Alle attraktiven Orte in Kroatien, wie die adriatische Küste, sämtliche Inseln, Istrien und sieben große Städte, wie Zagreb und Dubrovnik, sind zu einer Holding vereinigt, die von Steuern, Handel und Maklergeschäften lebt. Die Städte sind von Mauern umgeben und werden streng bewacht. Die Holding wird von einer Organisation namens HUKEIVERBRE kontrolliert, was ein Akronym für „Helden und keine Verbrecher“ ist. Popović stellt sie in eine Reihe mit IBM, der Weltbank, Halliburton und dem kolumbianischen Drogenkartell. Auf der anderen Seite der Mauer leben die „Ungeniessbaren“, eine Bewegung von Menschen, für die anfänglich kein Platz mehr in der Gesellschaft war. Sie erteilen der Konsumgesellschaft eine Absage und gehen gemeinsam Containern, ihre Spiele sind frei von Wettbewerb und sie besitzen keine Pässe. Die Holding hält ihre Städte frei von allem Frivolen und Frevelhaften. Die Zone wird zum Ausflugsgebiet für Banker und Immobilienmakler, bis einige von ihnen entführt werden. Der fröhlich Aufstand gerät zu einem terroristischem Kampf. Das 2011 erschienene Buch greift viele Entwicklungen der kommenden Jahre voraus. Die Ungeniessbaren werden überwacht und es herrscht eine regelrechte Datensammelwut. Geheimcodes werden entwickelt und poetische Zeilen übermitteln den Treffpunkt in einem Museum in Madrid oder einem Wiener Kaffeehaus. Die Menschen außerhalb der Holding hoffen nicht mehr. Sie wissen, dass die Wahrheit die Lüge nicht besiegen wird. Der entführte Makler befindet sich in einer Welt, jenseits der Mauer, in der sein Geld und sein Einfluss nichts zählt. Die Verhältnisse werden für einen Moment umgekehrt. Er hat weniger Bedeutung als ein streunender Hund.

Edo Popović: „Der Aufstand der Ungeniessbaren“ Luchterhand Literaturverlag, 192 Seiten, 17,99 Euro

„Es werden die Büsten von Mirabeau und Helvetius, denen Forderungen nach einer Bildungsreform unterstellt wurden, aus dem Pantheon herübergeholt, der Versammlung vorgezeigt und vor den Augen der Abgeordneten zertrümmert. »Politik der Tat.«“

Eine andere Herangehensweise, um sich dem europäischen Geist zu nähern, besteht darin, in das Innenleben von europäischer Politik zu schauen.

Alexander Kluges „Das Bohren harte Bretter – 133 politische Geschichten“ bietet dazu die Möglichkeit. In 133 wahren und halb erfundenen Episoden kämpfen Politiker und Philosophen zwischen Alltäglichem und großer Weltgeschichte um das Gelingen von Politik. Sie scheitern, straucheln und entgehen zu vielen Handlungsmöglichkeiten durch widrige Umstände. Kluge rechnet aus, dass die Kanzlerin, gehindert an einem Weiterflug durch die Aschewolke des Eyjafjallajökull, einem Potential an zwei Milliarden falschen Entscheidungen entging, da 60 000 an einem Tag unterbunden worden waren. Der Apparat hinter dem Kanzleramt ist ein Bremsorgan, welches einen Überschuss an impulsiven oder sogar falschen Entscheidungen zu verhindern versucht. Reist die Kanzlerin, gewinnt sie glaubhaft Zeit, um keine Entscheidungen treffen zu müssen. Wer erfahren will, wie unsere politischen Geschicke geleitet werden und wurden, folgt hier also den unergründlichen Pfaden europäischer Politik und ihren Ursprüngen. Dazu gehören auch Glasnost, Perestroika und die französische Revolution. Nach dem Tod von Ludwig XVI. debattierte man in der Nationalversammlung eine geschlagene Woche über die Zukunft des Unterrichts und seiner Ausgestaltung. Die Debatte zerfiel und bis zum Ende der Großen Revolution wurde der Unterricht nie wieder ein Hauptgegenstand politischer Auseinandersetzung. Die französische Revolution ist ein politischer Umsturz, in dem nur radikale Taten zählen und Köpfe rollen.

Alexander Kluge: „Das Bohren harter Bretter – 133 politische Geschichten“ Suhrkamp Verlag, 336 Seiten, 24,90 Euro

„Und ist Ihnen aufgefallen, dass fast alle Spiele kommunistisch beginnen und kapitalistisch enden? Alle fangen mit dem gleichen Geld an, alles ist fair.“

Kapitalismuskritische Bücher sind seit Jahren auf sämtlichen Bestsellerlisten. Da mag mancher inzwischen müde abwinken. Um genau dieser Müdigkeit entgegenzuwirken und sich den Herausforderungen der Gegenwart, sei es den Migrationsbewegungen, den Bürgerkriegen oder TTIP zu stellen, tut es gut, das Streitgespräch zwischen den Stars der Kapitalismuskritik Tomáš Sedláček und David Graeber zu lesen. „Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus?“ erinnert im Titel an eine andere Streitschrift, welche bereits über 100 Jahre alt ist. „Sozialreform oder Revolution“ von Rosa Luxemburg, erschienen 1899, setzte sich mit dem für und wider eines sozialreformistischen Ansatzes in der Politik auseinander. Die Ungleichheit der Wohlstandsverteilung wird die kommenden Jahre eher zu als abnehmen. Sedláček möchte dem eine reformkapitalistische Perspektive entgegensetzen, wohingegen Graeber glaubt, das System des Kapitalismus müsse erst untergehen, bevor wir neue Ansätze des wirtschaftlichen Zusammenlebens finden können. Graeber sucht, aufgrund seiner Erfahrung mit der Occupy-Bewegung, einen Weg zurück zur direkten Demokratie, um dem Homo Oeconomicus als zentraler Leitfigur Einhalt zu gebieten. Sedláček möchte den menschlichen Aspekt in unsrem Wirtschaftsleben wieder stärker hervorheben, denn da sind sich beide einig, ein rein rationales ökonomisches Modell an sich existiert so nicht. Es ist so, als würden Physiker aus einem Experiment, welches ohne Reibung und Luftwiderstand stattfindet, unumstößliche Gesetze herleiten, welche allgemeingültig wären.

Graeber spricht davon, dass der Machtgrundsatz darauf beruht, die Regeln und ihre Auslegung zu bestimmen. Jemanden, der gegen die Regeln verstößt, schließen wir aus unserer Gemeinschaft aus. Weil wir die Regeln akzeptieren und sie uns Sicherheit verschaffen, verkraften wir es auch leichter kontrolliert zu werden. Unsere Regeln schaffen einen Ressourcenmangel in vielen Gebieten der Erde und die Leidtragenden von Umweltverschmutzung und niedrigen sozialen Standards bewegen sich allmählich Richtung Europa, in Richtung Kapital. Es ist ein wirkungsvolles Mittel des Kapitalismus, den Schulden eines Landes eine moralische Essenz zuzuschreiben. Man spricht dann davon, dass ein Land zu sehr gefeiert und sich ausgeruht habe. Dabei zeigt die Geschichte der Schulden, dass die Mehrzahl der Leute, die Schulden hatten, Landwirte waren, die eine schlechte Ernte zu verkraften hatten.

Tomáš Sedlácek und David Graeber: „Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus?“ Hanser Verlag, 144 Seiten, 15,90 Euro.

Dieser Text ist von 2015 und wurde ursprünglich auf dem nicht mehr zugänglichen Blog Bibliotheque gepostet.

Lieber Vater,

in deiner letzten Mail an mich, bevor du zum Krankenhaus gefahren wurdest, hieß es: „Wird schon schief gehen.“ Deine letzten Worte an mich waren: “ Bleibst du noch?“ Dazwischen lagen anderthalb Monate. Beides ist eingetroffen, es ist schief gegangen und ich bin noch ein wenig geblieben. Ich erinnere dich als sehr zärtlichen und liebevollen Menschen. Mitunter konntest du auch aggressiv werden. All das trat auch während der Zeit im Krankenhaus zutage.

Wenn ein Mensch nicht sofort stirbt, dann bekommt er so etwas wie eine letzte Reise, die ihm so angenehm wie möglich gestaltet wird. Meine Mutter hätte noch unendlich viel für dich tun wollen, allein die Medizin vermochte es nicht mehr. Ich habe den leisen Verdacht, dass du schon vor einigen Monaten bei einem deiner vielen Ärzte keine sonderlich gute Prognose bekommen hast. Das hast du uns vermutlich verschwiegen.

Willenskraft bedeutete dir sehr viel. Ein wenig warst du schon neidisch auf mich, als wir gemeinsam im Frühjahr 1990 mit anderen Wanderern einen Viertausender in Äthiopien bestiegen haben und ich vor dir auf dem Gipfel angelangte. Ich war sogar zweite Gipfelbesteigerin, so mit zwölf Jahren. Solche Wettkämpfe brachten uns beide einander näher. Genauso wie die Heimfahrten von Potsdam nach Berlin, wo wir uns näher kamen. Du vor mir standest und mit Händen und Füßen versuchtest mir zu erklären, dass du mir nur das Beste wünscht. Das größtmögliche Glück.