Berlin – Potsdam

Wer von Berlin nach Potsdam fahren möchte, denkt vermutlich zunächst daran, am Alexanderplatz oder am Hauptbahnhof in den Regionalzug zu steigen. Die Kunst ist es aber, die gesamte Strecke mit der S-Bahn zu fahren und dafür sollte man sich auch einen etwas abgelegenen Bahnhof als Ausgangspunkt nehmen.

Lichtenberg oder Springpfuhl wären dafür geeignete Bahnhöfe. Auf dem fremden zugigen Bahnhof gilt es zunächst einmal, Haltung zu bewahren. Als Hilfsmittel könnten natürlich Kopfhörer dienlich sein, aber wir wollen ja das Gesamterlebnis. Also warten wir, bis die S-Bahn nach Potsdam eintrifft. Unterdessen kann man die anderen Wartenden beobachten, die Plakatwerbung oder die eigenen Füße studieren. Nachdem man einige Gespräche oder Telefonate mitangehört hat, fährt endlich die lang ersehnte S-Bahn nach Potsdam ein.

Tagsüber in der Woche finden wir problemlos ein leeres Abteil für uns alleine und können nun die fließenden Übergänge der Stadtbezirke bestaunen. Das Gewebe, bestehend aus hellen, teilweise farbigen Plattenbauten und Unmengen an Bäumen und Wiesen, geht zwischen Lichtenberg und Nöldnerplatz allmählich über in sandfarbene und dunkelgraue Mietskasernen mit begrünten Balkonen. Wir seufzen ein wenig und überlegen uns Hintergrundgeschichten zu den ein- und aussteigenden Menschen. Die alleinerziehende Mutter, die sich am Telefon mit dem Kindsvater streitet, die Gruppe junger Mädchen, die sich über die Antworten des jeweiligen Crushs lautstark amüsiert. Die Mädchen steigen aus, aber wir müssen weiter.

Zwischen Ostbahnhof und Jannowitzbrücke bekommen wir erneut die Platte zu Gesicht, aber auch zahlreiche Neubauten und architektonische Irrtümer der letzten Jahrzehnte gleiten sanft an uns vorüber. Das Spreeufer streift unseren Blick und wir dringen allmählich in das Herz der Stadt vor. Als Berlin-Neuling sind da natürlich kaum Assoziationen möglich, aber wer schon ein paar Jahre länger hier wohnt, verbindet mit dem ein oder anderen Ort auch eine Erinnerung, eine gute oder schlechte. Erinnerst du dich noch an den Abend auf diesem freien Gelände (welches jetzt bebaut ist) unten an der Spree zwischen Jannowitzbrücke und Alex? Die Erinnerung ist schwach, aber es war ein guter Abend. Natürlich haben wir getrunken und das Leben gefeiert.

Am Alexanderplatz steigen einige Menschen aus und du schaust auf den Fernsehturm, weil du das immer so machst. Auf den kommenden Stationen weicht die Architektur des 20. Jahrhunderts der wilhelminischen Kaiserzeit und das Wilhem-Grimm-Zentrum, dieser neue großartige Klotz, steht dazwischen wie ein angehäufter quadratischer Sandberg, in dem Ameisen oder eben Studierende leben. Die Fenster der nachfolgenden Mietskasernen liegen so nah, dass du hoffst, ein Gesicht am Fenster zu erhaschen, aber keine Chance.

Den Ostsektor zu verlassen ist keine Hürde mehr, man landet einfach mit einem Wimpernschlag in West-Berlin. Am Hauptbahnhof steigen wieder viele Fahrgäste aus und wir rütteln uns kurz zurecht, da wir noch eine halbe Stunde Fahrzeit vor uns haben. Die Aufregung steigt, wir fahren am Hansaviertel vorbei, erhaschen einen Blick auf die Siegessäule und schon sind wird da. Allerdings gestaltet sich der Bahnhof Zoo als vollkommen unspektakulär. Normale Menschen steigen aus und normale Menschen steigen wieder ein. Immerhin, wir haben die Gedächtniskirche aus einer Perspektive gesehen, die sonst zu erreichen schwierig wäre. Aufmerksame S-Bahn-Fahrer:innen sehen den Schriftzug des Tattersalls des Westens auf der weiteren Reise an einer Hausinnenhofwand, die anderen sehen vermutlich nichts weiter oder sind abgelenkt durch Gespräche, Hunde oder obdachlose Zeitungsverkäufer:innen.

An Charlottenburg und Westkreuz können sich die meisten Reisenden nicht mehr erinnern, weil hier das Gehirn kurz blockiert wurde. Danach befindet man sich wieder in Wäldern und Gartenlauben, die am Rand der S-Bahn gelegen sind. Gelegentlich bekommt man einen Tennisplatz zu Gesicht, was bedeutet, man erreicht nun die gediegene Villenwelt von West-Berlin. Der S-Bahnhof Nikolassee wirkt oberflächlich gesehen mediterran, aufgrund seiner Bepflanzung und ab Wannsee ruht sich das Auge auf einigen Gewässern aus. Wir sind nun schläfrig geworden, aber Babelsberg braucht noch einmal unsere Aufmerksamkeit. Die Häuser haben Kleinstadtcharakter und das Thalia, das wir von unserem Standpunkt aus sehen, wirkt unspektakulär. Aber ich verspreche ihnen, besuchen sie doch mal das Thalia in Babelsberg. Eine Minute noch und dann sind wir da, im herrlichen Potsdam. Die Baustellen vor dem Bahnhof sind nur eine Halluzination und nächsten Sommer wieder verschwunden. Versprochen.