Fenster mit Aussicht

Die Wohnung gleicht allmählich einem Museum, einem kleinen kaum besuchten Museum in einer französischen oder gar nordsibirischen Kleinstadt. Einer Kleinstadt, die nicht auf den großen touristischen Routen liegt, aber trotzdem ihr kulturelles Erbe hegt und pflegt. Täglich ist geöffnet und die alte Madame nimmt ihren Platz an der Kasse ein und Anatol, der alte Anatol, geht bedächtig die Räume auf und ab. Gegen drei Uhr wird das Museum geschlossen und die Madame wischt mit einem Staubtuch über die alten Vitrinen, in denen Wollteppichstücke liegen. Vorsichtig staubt sie hernach den alten Webstuhl ab. Gewischt wird einmal in der Woche. Es kam nichts über die Jahre dazu und es ging auch nichts verloren.

Fenster mit Aussicht

Ich mag den Blick aus dem Fenster immer noch, der Schreibtisch im hinteren Teil der Wohnung, das Fenster leicht angelehnt, das Straßenrauschen, mal laut und genervt, mal leise und zärtlich. Der Blick auf den Kirchturm und die Berliner Traufhöhe suggerieren Kleinstadtmillieu, obwohl die Straßen breit und prächtig angelegt sind. Im Sommer zieht ein kühler Hauch vom Friedhof herüber und wenn man morgens das Haus verlässt, sind die Geschäfte und Galerien immer noch die gleichen. Ich häufe nichts neues an und nichts altes zerfällt. Das übergroße Bett nimmt ein Viertel des Raumes ein, aber ich wäre unglücklich, stünde an seiner Stelle eine schmale Pritsche, die an karge Tage im Großen und Ganzen erinnern würde. Arbeiten, essen und schlafen. Nein, dann lieber diese raumgreifende Extravaganz. Das Äußere des Arbeiterpalazzos nach innen gekehrt. Als ich eines Tages anfing auf dem Klavier etwas herumzuklimpern, war Frau Nachbarin begeistert und meinte, so käme etwas Leben ins Haus. Ich war mir unsicher ob meiner kläglichen Klavierkünste. Inzwischen ist die Frau Nachbarin ein Herr Nachbar, den ich selten sehe. Auf dem kleinen Tisch am Fenster stapeln sich die Briefe meine Großmutter und tragen zu einem guten Teil zum Kleinstadtmuseumcharme der Wohnung bei. Würde es mir gelingen, sie alle diesen Winter zu lesen und zum Teil zu veröffentlichen, so wäre der Stillstand zum Teil durchbrochen und die Madame hätte weniger zum abstauben und der alte Anatol könnte diesen Teil des Raumes unbewacht lassen.

Schreiborte

Jahrelang zierten blaue Flecken meine Ober-und Unterschenkel; da der an mich übertragene Schreibtisch meines Vaters, welcher wiederum vom Vater meiner Mutter stammte, zwar hübsch anzusehen war, aber überall Kanten und Ecken besaß, welche man just in jenen Momenten vergaß, in denen man einer normalen Sitzhaltung überdrüssig wurde. Ich sah jenes Modell noch häufig in anderen Wohnungen. Besonders exquisit war das braune Möbelstück nicht, aber es verlieh Studentenbuden einen Hauch von altehrwürdigem Büro. Und so lief ich sommers schon mal gesprenkelt und gefleckt durch die Dörfer von Berlin ohne Erklärungsnöte.

Jenseits des Handschriftlichen, was man prinzipiell gut in allen Lebenslagen erledigen kann, also im Sitzen, Stehen oder Liegen, begann meine Tippkarriere mit einer Schreibmaschine. Hierauf verfasst die erste Lyrik. Das geschah alles noch in einem kleinen Zimmer mit Seerosentapeten und wurde akribisch verrichtet. Nach drei, vier Gedichten begann ich Songtexte von Plattencovern abzutippen um alsbald festzustellen, dass das auch alles Lyrik ist. Das Maschinchen verschwand bald wieder und ich kehrte zum Handschriftlichen zurück bis mein erster Computer mein Zimmer des abends und des nachts zu erleuchten begann.

Dieses mysteriöse Leuchten ersetzte schon bald den Fernseher, auch wenn das Geschriebene natürlich nur Selbsbespiegelung war. Aber im Rausch von Pubertät und Postpubertät war mein Fenster zur Welt mein Ich. Hinzu kamen schon bald die schönen, wie auch simplen Feststellungen: Je mehr ich schrieb, desto besser wurde ich und je mehr ich las, desto besser wurde ich. Man konnte der Eitelkeit beim Wachsen zusehen.

Die blauen Flecken nahm ich in zwei Wohnungen mit und hernach verschwanden sie, so wie auch die Postpubertät verschwand und das Schreiben sich wandelte. Was anfangs noch sehr aufregend und bestimmt war von Rausch, Selbstübersteigerung, Naivität und Sehnsucht, ließ allmählich nach. Mir wurde klar, dass ich Themen brauchte, Stoff sozusagen, Erzählstoff. Damit begann das Schreiben ein anderes zu werden, an anderen Orten und Schreibtischen. Zu anderen Zeiten. Mit einem anderen Wesen auf der anderen Seite des Bildschirms als früher.

Jeder Schreibort hat seine eigene Geschichte, seine eigene Aura und womöglich auch seine eigene Bestimmung. Ich kann inzwischen in öffentlichen Räumen schreiben ohne nervös zu werden. Wobei ich nicht weiß, ob ich dies als Fortschritt oder Rückschritt betrachten soll. Mich beglückt das Schreiben in jeglicher Form sowie Art und Weise nach wie vor. Mal ist es eine geritzte Zeile in eine S-Bahn -Scheibe, mal ein Fluch, an eine Klowand gepinselt, ein Witz, auf Twitter erzählt, eine Replik zu einem Zeitungsinterview mit einem Philosophen oder es sind siebenhundertfünfzig heruntergeratterte Wörter, ausgefeilte Texte im offline oder einfach eine Notiz auf einem Zettel.