Belinda ging in den Garten, den schmalen Weg entlang der weiß gekalkten Hauswand und sie beugte sich über das Kräuterbeet und zupfte ein paar Melissenblätter in die hohle Hand. Der zitronige Duft stieg ihr in die Nase, die Sonne stand hoch oben am Mittagshimmel und sie lief wieder barfuß ins Haus. Sie wollte Kurt bei seiner Ankunft einen frischen Melissentee brühen. Später würden sie vermutlich Bier trinken und übereinander herfallen. Übereinander herfallen, das war der Kern ihrer Geschichte und sie hatte sich damit arrangiert. Es ist ein Arrangement, eine Vereinbarung, eine Liason von womöglich begrenzter Dauer. Belinda ließ die Blätter in eine Schüssel fallen, deckte sie mit Plastikfolie ab und schlüpfte in ihre Sandalen. Die Holzdielen aus den 50er Jahren gaben keinen Laut von sich, als sie bis zur Vordertür lief. Genauso wie das Haus seit Tagen in einen sommerlichen Mittagsschlaf versunken war, umgeben von Stille, sirrenden Insekten und hin und wieder hörte man Pferde und Kühe in der Ferne. Ein Refugium der Sonderklasse, entstanden aus Albernheiten, gebaut von sonderlichen Menschen. Auf einem Berg sollte es stehen, fern ab der Menschen. Sonderlich und schön.
Als sie den Zündschlüssel umdrehte, nahm Belinda einen sich bewegenden Schatten im Rückspiegel wahr. Es war der Meier, der ein paar Ziegen am unteren Hang weiden ließ. Auch ein Arrangement der ungesetzlichen Art. Sie kurbelte das Fenster des alten Autos herunter und grüßte freundlich. Er sei nur kurz bei den Ziegen gewesen, gestern hätten sie viel Schlamm um die Beine gehabt. Er wollte nur schauen, ob mit dem Hang alles in Ordnung sei. Der Hang rutschte seit Jahren, Millimeter um Millimeter. In einer sternklaren Nacht wie der vorgestrigen und ohne jeglichen Regen, war kaum davon auszugehen, dass der Hang ungewöhnlich gerutscht wäre. Belinda lächelte weiterhin freundlich und besänftigte Meier, der winkend davonstob und von Belindas Besänftigung vermutlich wenig überzeugt war. Sie drehte den Zündschlüssel erneut um und fuhr die Dörfer auf und ab Richtung Kurt, der an einem beinah verlassenen Bahnsteig in einer größeren Ortschaft auf sie warten würde.
Abgesehen von Kurt waren noch eine junge Familie und zwei ältere Frauen aus dem Zug gestiegen, der in dieser kleinen, größeren Ortschaft zwei Mal täglich hielt. Er trug eine Sonnenbrille, hatte seinen Projektmanagerrollkoffer dabei und schien bester Laune zu sein. Belinda war kurz davor, ihm den Staub von der Schulter zu pusten, als er sie unvermittelt innig und lang küsste. Sie kurbelten zunächst die Fenster herunter, bevor sie losfuhren, stellten das Radio an und Belinda wirbelte das Lenkrad so lange herum, bis es wieder die Dörfer auf und ab ging bis zu dem Haus auf dem Berg, abseits von Mensch und Lärm. Belinda fuhr rückwärts den Weg hoch, ihren Kopf nach hinten gedreht und ihr Sommerkleid verschob sich leicht, sodass ihre rechte Achselhöhle entblößt vor Kurt lag. Oben angekommen küsste sie Kurt, ließ ihn auf ihrer Seite aussteigen und er hievte seinen Rollkoffer den Berg ein letztes Stück hinauf.
Der Melissentee dampfte vor sich hin und Belinda stellte eine Zuckerdose auf den Tisch, sie grinste breit: „Kein Telefon, kein WLAN.“ Kurt murmelte etwas von seinem iPad. „Klar, versuch es!“ sagte Belinda noch angriffslustiger. Als sie vor Kurts Abreise mit ihm telefoniert hatte, war sie ins Dorf hinaufgelaufen, um Empfang zu haben. „Ach, zwei Tage“, Kurt schaute sie aufrichtig an und Belinda gab sich geschlagen. „Wie hast du das eigentlich erklärt, also diese zwei Tage?“ „Nichts weiter, ich habe gesagt, ich fahre zu dir und Sylvia hat genickt. Mehr nicht.“ Belinda wusste darauf nichts zu erwidern und begann von Meier und dem rutschendem Hang zu erzählen. Sie öffneten sich jeder ein Bier und liefen den Hang hinunter zu den Ziegen. Es sah von weitem alles normal aus, aber bei näherer Betrachtung, sie liefen am Waldrand entlang, konnte man ein Rinnsal, wenn auch ein recht schwaches sehen, wie es sich seinen Weg bahnte, mitten aus dem Hang. „Wo kommt das her?“ Belinda sah zum ersten Mal seit Kurts Ankunft ratlos aus.
„Vermutlich Grundwasser?“ Kurt kratzte sich am Kopf und schien nicht sonderlich besorgt. Er schob seine halblangen, blonden Haare zurück und zwinkerte Belinda zu. Sie gingen wieder hinauf zum Haus und aßen eine Kleinigkeit, um dann übereinander herzufallen. Belinda wachte mit einem fahlen Geschmack im Mund auf und putzte sich die Zähne. Im Vorraum hatte sie ihr Büro eingerichtet, ihren Laptop mittig auf dem Tisch platziert, ein paar Stapel Bücher daneben. Sie ließ sich in einen der Stühle mit den großen Lehnen fallen und ging die letzten Zeilen durch, die sie gestern Abend verfasst hatte. Kurt schlief. Der Mann schläft, dachte sich Belinda und zündete sich eine Zigarette an. Sie rauchte nur noch selten und wenn dann meist in den Abendstunden. Es fing an leicht zu regnen. Wenn man es nicht gewohnt war, erschreckten einen die Geräusche mitten im Nichts zutiefst und so dauerte es nicht allzu lange, bis Kurt die Treppen herunter kam und von seltsamen Geräuschen berichtete, die ihn geweckt hätten. Belinda lächelte und sie gingen ins Wohnzimmer und setzten sich an den Tisch, welcher zum Essen, zum Sitzen und zum einander Ansehen gedacht war. „Ich verlasse sie nicht.“ „Ich weiß.“, sagte Belinda. Kurt schob ein paar entschuldigende Worte nach, aber Belinda hörte nicht mehr zu, denn draußen krachte etwas sehr laut. Aus dem leichten Regen war inzwischen ein heftiger Schauer geworden. „Der Hang rutscht.“, sagte Belinda eher leise zu sich selbst und lief ruhig aber zügig zur Tür hinaus, warf sich noch schnell ein Regencape über und Kurt folgte ihr. Aus dem mittigen Hangrinnsal war ein reißender Bach geworden und er schwemmte alles fort. Sie schauten beide ungläubig in die Schneise, die der neue Bach in den Hang gerissen hatte und Kurt trat einen Schritt nach vorn und rutschte den Hang hinunter bis zur Straße, wo er von einem tschechischem LKW erfasst wurde. Belinda ging zurück ins Haus und zündete sich eine Zigarette an und schrieb das Kapitel zu Ende.